Es gibt nichts Schöneres, als hier in der Bucht mein Frühstücksbrot zu essen
Abenteuer bringen Gefahren mit sich. Die vermutlich Größte: Danach ist nichts mehr, wie es vorher war. Segelreisen können abenteuerlich und aufregend sein. Früher, zu Zeiten der großen Seefahrer, auf jeden Fall. Und heute auch immer wieder. Besonders wenn Wind und Wetter das Geschehen bestimmen. Es wird also selten langweilig am Segelboot und Überraschungen sind immer möglich. Erstaunlich ist aber, dass es besonders die durchkreuzten Erwartungen sein können an eine Reise oder an ein Abenteuer, die bereichernde Erfahrungen ermöglichen. Die uns erfahrener vom Schiff steigen lassen, als wir zugestiegen sind. Die Erziehungswissenschafterin und Trainerin Dr.in Julia Schratz und die Kommunikationswissenschafterin und Unternehmerin Mag.a Vivienne Kaier gehen diesem Phänomen nach. Beide verbringen ihre Urlaube gern am Segelboot.
Reisen und Arbeit – eine überraschende Verbindung
Julia Schratz: Ich beginne mit dem Begriff der Reise[1], der vom mittelhochdeutschen „reis(e)“ kommt, was so viel wie „Aufbruch, Fahrt“ bedeutet und auf das germanische Verb „reisa“ „aufgehen, sich erheben“ zurückgeht.
Wann hat das Reisen wie im heutigen Sprachgebrauch verstanden begonnen? Im 18. Jahrhundert war die „Grand Tour“ fixer Bestandteil in der Erziehung junger Adeliger, darauf entstand der Begriff Tourismus: Reisen in einer organisierten Form, das sowohl Kennenlernen fremder Orte als auch Erholung bot. Es lohnt sich aber auch ein Blick auf das englische Wort „travel“, welches mit dem französischen „travail“ denselben Ursprung teilt. Hierbei ist insbesondere interessant, dass das „travail“ im Englischen „labour, painful effort, trouble, work“ bedeuet, im Sinne von „to put oneself to pain“. Heute ist die Hauptbedeutung von „travel“ die Bewegung, ohne die eine Reise nicht möglich ist.
Vivienne Kaier: Julia, da gebe ich dir doch tatsächlich Recht: Reisen hat ja wirklich auch mit Arbeit zu tun. Auch wenn ich das vorher nie zugeben möchte, und immer der Meinung bin, es lohnt auf jeden Fall. Aber die Vorbereitung auf eine Reise – besonders auf die Segelreise – ist nicht zu verachten. Listen schreiben, Kofferpacken, Papiere vorbereiten, mit dem Auto stundenlang ins Zielgebiet fahren. Aber wie du schon sagst: to put oneself to pain J und immer wieder mache ich das gerne und voller Vorfreude.
Erfahrung auf Knopfdruck funktioniert nicht
Julia Schratz: Vivienne, du hast die Arbeit also auf dich genommen und es geht los. Wie ist das so mit dem Anfangen? Wann genau geht es los? Beim Gedanken im Kopf? Beim Ölzeug kaufen? Was steht am Anfang, wenn ich eine Erfahrung mache? Der deutsche Philosoph Bernhard Waldenfels[2] spricht von Widerfahrnis. Vom Getroffen sein. Er meint damit, was uns widerfährt ist bereits geschehen, erst dann können wir darauf antworten, es verarbeiten, reagieren. Er ist also nicht so einfach zu sagen, wann eine Erfahrung überhaupt beginnt. Und fraglich, ob man diesen Prozess überhaupt selbst in der Hand hat.
Erfahrungen zu machen, wird unter anderem mit Lernen in Verbindung gesetzt. Und hier wird klar: Wir können nicht sagen ich beginne morgen mit dem Lernen, so wie ich nicht sagen kann, ich werde morgen mit dem Staunen anfangen. Lernen vollzieht sich, ohne, dass wir aktiv eine Entscheidung treffen, auf die dann im Anschluss Lernen seinen Anfang nimmt. Wir lösen den Anfang des Lernens nicht aus. Im anfänglichen Zustand ist Lernen ein Zustand der Schwebe, der sich zwischen Neuem und Altem bewegt, schreibt die deutsche Pädagogin Käte Meyer-Drawe[3]. Dass wir etwas gelernt, eine Erfahrung gemacht haben, kann immer erst im Nachhinein gesagt werden. Der Anfang ist uns sozusagen entzogen. Beim Lernen, in der Erfahrung und auch im Reisen? Wann ist der Aufbruch? Vivienne, woran kannst du dich erinnern?
Vivienne Kaier: Der Aufbruch war für mich gerade beim ersten Mal etwas ganz Besonderes. Wusste ich doch gar nicht worauf ich mich einlasse. Ich hatte die Aufgabe, dabei zu helfen, das Gepäck zu verstauen. Noch nie zuvor habe ich darüber nachgedacht, dass es keinen Sinn macht, irgendwelche Dinge auf einem Segelboot am Tisch liegenzulassen. Die rollen bei Schräglage einfach vom Tisch. Jeder Kasten wird ordentlich geschlossen, Geschirr sicher verstaut, Colaflaschen in der Bodenluke versteckt und verankert.
Mir war schon etwas flau im Magen – und das noch vor der echten Seekrankheit – denn ich wusste gar nicht, ob mir das gefällt, ob diese Erfahrung vielleicht für immer die letzte auf See sein würde.
Erfahren und erleiden – ja, so ist das
Julia Schratz: Vivienne, der Anfang deiner Segelreise ist geschafft und du bist bereits mitten drin. Wie ist es nun mit dem Erfahren? Erfahrung ist das, was einem auf der Fahrt, auf der Reise begegnet, sagt der deutsche Philosoph und Pädagoge Otto Friedrich Bollnow[4]. Es steckt einerseits „fahren“, also Bewegung drin, aber auch die dazugehörige „Gefahr“. Wir sprechen davon, Erfahrungen zu machen, mit jemandem oder mit etwas. Allerdings meint dieses Machen nicht, etwas herzustellen. Vielmehr ist damit „Erleiden“ gemeint. Der Mensch ist in der Erfahrung dem ausgeliefert, was auf ihn zukommt. Also etwas sehr Passives, das Erleiden. Der Mensch ist in der Erfahrung reaktiv und erst in der Reaktion produktiv.
Vivienne Kaier: Das klingt sehr paradox. Julia, wenn ich dich richtig verstehe, dann sagst du gerade, der Mensch, also die Seglerin, soll ausgeliefert sein, nicht frei bestimmen können über ihr Tun? Bringst du die Erfahrung des Segelns auf eine Ebene mit dem Erleiden? Das klingt interessant!
Julia Schratz: Otto Friedrich Bollnow ist in diesem Zusammenhang recht deutlich: „Angenehme Erfahrungen gibt es nicht.“[5] Dann wäre es ein Erlebnis. Zwischen den beiden Begriffen gibt es in der Philosophie einen großen Unterschied. Was ist das Schmerzliche in der Erfahrung? Es sind die Erwartungen, die durchkreuzt werden. Erfahrung ist somit enttäuschte Erwartung. Und genau diese enttäuschten Erwartungen sind wiederum notwendig um im Nachhinein eine Lehre ziehen zu können. Indem der Mensch also antwortet, sich auseinandersetzt mit dem was passiert ist, stellt er einen neuen Sinn her.
Vivienne Kaier: Wer hätte vermutet, dass Erwartungen, welche nicht erfüllt werden, dennoch eine tolle Bereicherung darstellen? Ich nicht…
Natürlich, jede mehr oder wenige geübte Seglerin wird dir Recht geben: es ist manchmal auch eine Herausforderung, ein paar Tage oder Wochen auf einem Segelboot zu verbringen. Zum Beispiel, wenn das Wetter Überraschungen bereithält. Ich möchte nicht behaupten, dass der Teil des ERLEIDENS gering war, als beim letzten Törn das Wetter die Spielregeln vorgab. Als ich in Ölzeug dick eingewickelt, mit Leggins drunter und Stirnband und Mütze und noch eine Kapuze drüber an Deck gestanden bin. Es hat geschüttet, alles war nass, stürmisch, Regentropfen vor den Augen. Die warme Dusche nicht in Sicht und ein Klo, das mir in dem Moment eher wie ein Besenkammerl vorkam.
Aber am nächsten Morgen ging die Sonne auf und mir wurde klar: es gibt nichts Schöneres, als hier in dieser Bucht mein Frühstücksbrot zu essen, es ist ruhig und das Erleiden war es tausend Mal Wert.Es hat mich dieses „Erleiden“ also zu einer Erkenntnis gebracht: Es geht mir in meiner Entwicklung als Seglerin nicht darum, alle Wünsche erfüllt zu bekommen. Vielmehr ist es die Erfahrung, die mich stärkt und bereichert.
Viel zu wissen heißt nicht erfahren zu sein
Julia Schratz: Wann ist jemand demnach erfahren? Otto Friedrich Bollnow bezieht sich auf Arnold Gehlen[6], wenn er davon spricht, dass es keinen höheren Titel gibt, als den der erfahrenen Seefrau (Bollnow spricht zwar vom Seefahrer). Viel zu wissen macht noch keine Erfahrung. Erfahrung steht immer in praktischem Zusammenhang: erfahrene Ärztin, erfahrene Skiläuferin und eben erfahrene Seefahrerin; es sind die praktischen Fähigkeiten, die die Seefrau zur erfahrenen Seefrau machen. Reife ist also nur dann möglich, wenn auch schmerzliche Erfahrungen gemacht werden. Die Erfahrene ist diejenige, die aufgrund ihrer Erfahrung in kritischen Situationen für sich und andere die Verantwortung zu übernehmen bereit ist.
Vivienne Kaier: Dieses „Verantwortung übernehmen“ kommt uns beim Segeln sehr entgegen. Auf dem Segelboot gibt es ja nicht nur klassisch „die Seglerin“, sondern es gibt in einer Art Rollenverteilung: die Skipperin, die Smutje, die Steuerfrau, die Navigatorin, vielleicht eine Wachfrau, es gibt Trimmerinnen und die Rollen können auch mal getauscht oder mehrere Rollen zugleich besetzt werden. Doch was ich auf meinen Segeltörns gelernt habe, ist, dass niemand nichts macht. Es braucht das Team, es braucht den oder die, die Regeln vorgibt und ein Leben am Segelboot (und sei es auch nur für eine Woche) erfordert Organisation. Wenn die Skipperin gute, klare Vorgaben gibt, hat die „Frauschaft“ die Möglichkeit, Erfahrungen zu sammeln, zu lernen, ein Ziel zu erreichen. In unserem Fall zum Beispiel den Hafen oder die Bucht. Ich habe gelernt, dass ich nur dann auf einem Boot funktioniere, wenn ich mich manchmal zurückstelle, fürs Team agiere, Entscheidungen treffe und besonders Entscheidungen anderer folge. Und auch meine Crew funktioniert nur dann wenn jede dabei ist, jede lernt, jede Erfahrungen macht. Und wenn jede bereit ist, sich darauf einzulassen.
Julia Schratz: Dass eine Reise mit dem Segelboot Mut bedarf, ist jeder der bereits erfahrenen Seglerinnen sicherlich schon aufgefallen. Dass man Erfahrungen macht, erwartete sowie besonders auch unerwartete, das hätten wir uns vielleicht nicht gedacht.
Vivienne Kaier: Dass uns besonders die unerwarteten Erfahrungen jedoch umso mehr bereichern und dies den Segeltörn erst so richtig speziell macht, das ist das ganz Besondere.
Leicht veränderte Fassung des Vortrags „Reisen & Erfahrungen“ von Dr.in Julia Schratz und Mag.a Vivienne Kaier. Der Vortrag wurde im Rahmen der Veranstaltung „SeeFrauen erzählen“ am 10. Jänner 2018 in Innsbruck präsentiert. Vielen Dank.
[1] Kluge, F. (1989): Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Berlin: Walter de Gruyter.
[2] Waldenfels, B. (2002). Bruchlinien der Erfahrung. Phänomenologie. Psychoanalyse. Phänomenotechnik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. [insbesondere S. 59 bzw. 178]
[3] Meyer-Drawe, K. (2005). Anfänge des Lernens. Zeitschrift für Pädagogik, 49. Beiheft, S. 24-37. [insbesondere S. 31-33]
[4] Bollnow, O.F. (2013). Der Erfahrungsbegriff in der Pädagogik. In Bilstein, J. & Peskoller, H. (Hrsg.). Erfahrung – Erfahrungen, S. 17-50. Wiesbaden: Springer. [insbesondere S. 21-22]
[5] Bollnow, O. F. (1974). Was ist Erfahrung? In Vente, R. (Hrsg.): Erfahrung und Erfahrungswissenschaft. Stuttgart: Kohlhammer, S. 19–29. [insbesondere S. 20] sowie Bollnow, O.F. (2013). Der Erfahrungsbegriff in der Pädagogik. In Bilstein, J. & Peskoller, H. (Hrsg.). Erfahrung – Erfahrungen, S. 17-50. Wiesbaden: Springer. [insbesondere S. 22-25]
[6] ebd. bzw. Gehlen, A. (1961). Anthropologische Forschung. Zur Selbstbegegnung und Selbstentdeckung des Menschen. Reinbek: Rowohlt. [insbesondere S. 26]
Abenteuer bringen Gefahren mit sich. Die vermutlich Größte: Danach ist nichts mehr, wie es vorher war. Segelreisen können abenteuerlich und aufregend sein. Früher, zu Zeiten der großen Seefahrer, auf jeden Fall. Und heute auch immer wieder. Besonders wenn Wind und Wetter das Geschehen bestimmen. Es wird also selten langweilig am Segelboot und Überraschungen sind immer möglich. Erstaunlich ist aber, dass es besonders die durchkreuzten Erwartungen sein können an eine Reise oder an ein Abenteuer, die bereichernde Erfahrungen ermöglichen. Die uns erfahrener vom Schiff steigen lassen, als wir zugestiegen sind. Die Erziehungswissenschafterin und Trainerin Dr.in Julia Schratz und die Kommunikationswissenschafterin und Unternehmerin Mag.a Vivienne Kaier gehen diesem Phänomen nach. Beide verbringen ihre Urlaube gern am Segelboot.
Reisen und Arbeit – eine überraschende Verbindung
Julia Schratz: Ich beginne mit dem Begriff der Reise[1], der vom mittelhochdeutschen „reis(e)“ kommt, was so viel wie „Aufbruch, Fahrt“ bedeutet und auf das germanische Verb „reisa“ „aufgehen, sich erheben“ zurückgeht.
Wann hat das Reisen wie im heutigen Sprachgebrauch verstanden begonnen? Im 18. Jahrhundert war die „Grand Tour“ fixer Bestandteil in der Erziehung junger Adeliger, darauf entstand der Begriff Tourismus: Reisen in einer organisierten Form, das sowohl Kennenlernen fremder Orte als auch Erholung bot. Es lohnt sich aber auch ein Blick auf das englische Wort „travel“, welches mit dem französischen „travail“ denselben Ursprung teilt. Hierbei ist insbesondere interessant, dass das „travail“ im Englischen „labour, painful effort, trouble, work“ bedeuet, im Sinne von „to put oneself to pain“. Heute ist die Hauptbedeutung von „travel“ die Bewegung, ohne die eine Reise nicht möglich ist.
Vivienne Kaier: Julia, da gebe ich dir doch tatsächlich Recht: Reisen hat ja wirklich auch mit Arbeit zu tun. Auch wenn ich das vorher nie zugeben möchte, und immer der Meinung bin, es lohnt auf jeden Fall. Aber die Vorbereitung auf eine Reise – besonders auf die Segelreise – ist nicht zu verachten. Listen schreiben, Kofferpacken, Papiere vorbereiten, mit dem Auto stundenlang ins Zielgebiet fahren. Aber wie du schon sagst: to put oneself to pain J und immer wieder mache ich das gerne und voller Vorfreude.
Erfahrung auf Knopfdruck funktioniert nicht
Julia Schratz: Vivienne, du hast die Arbeit also auf dich genommen und es geht los. Wie ist das so mit dem Anfangen? Wann genau geht es los? Beim Gedanken im Kopf? Beim Ölzeug kaufen? Was steht am Anfang, wenn ich eine Erfahrung mache? Der deutsche Philosoph Bernhard Waldenfels[2] spricht von Widerfahrnis. Vom Getroffen sein. Er meint damit, was uns widerfährt ist bereits geschehen, erst dann können wir darauf antworten, es verarbeiten, reagieren. Er ist also nicht so einfach zu sagen, wann eine Erfahrung überhaupt beginnt. Und fraglich, ob man diesen Prozess überhaupt selbst in der Hand hat.
Erfahrungen zu machen, wird unter anderem mit Lernen in Verbindung gesetzt. Und hier wird klar: Wir können nicht sagen ich beginne morgen mit dem Lernen, so wie ich nicht sagen kann, ich werde morgen mit dem Staunen anfangen. Lernen vollzieht sich, ohne, dass wir aktiv eine Entscheidung treffen, auf die dann im Anschluss Lernen seinen Anfang nimmt. Wir lösen den Anfang des Lernens nicht aus. Im anfänglichen Zustand ist Lernen ein Zustand der Schwebe, der sich zwischen Neuem und Altem bewegt, schreibt die deutsche Pädagogin Käte Meyer-Drawe[3]. Dass wir etwas gelernt, eine Erfahrung gemacht haben, kann immer erst im Nachhinein gesagt werden. Der Anfang ist uns sozusagen entzogen. Beim Lernen, in der Erfahrung und auch im Reisen? Wann ist der Aufbruch? Vivienne, woran kannst du dich erinnern?
Vivienne Kaier: Der Aufbruch war für mich gerade beim ersten Mal etwas ganz Besonderes. Wusste ich doch gar nicht worauf ich mich einlasse. Ich hatte die Aufgabe, dabei zu helfen, das Gepäck zu verstauen. Noch nie zuvor habe ich darüber nachgedacht, dass es keinen Sinn macht, irgendwelche Dinge auf einem Segelboot am Tisch liegenzulassen. Die rollen bei Schräglage einfach vom Tisch. Jeder Kasten wird ordentlich geschlossen, Geschirr sicher verstaut, Colaflaschen in der Bodenluke versteckt und verankert.
Mir war schon etwas flau im Magen – und das noch vor der echten Seekrankheit – denn ich wusste gar nicht, ob mir das gefällt, ob diese Erfahrung vielleicht für immer die letzte auf See sein würde.
Erfahren und erleiden – ja, so ist das
Julia Schratz: Vivienne, der Anfang deiner Segelreise ist geschafft und du bist bereits mitten drin. Wie ist es nun mit dem Erfahren? Erfahrung ist das, was einem auf der Fahrt, auf der Reise begegnet, sagt der deutsche Philosoph und Pädagoge Otto Friedrich Bollnow[4]. Es steckt einerseits „fahren“, also Bewegung drin, aber auch die dazugehörige „Gefahr“. Wir sprechen davon, Erfahrungen zu machen, mit jemandem oder mit etwas. Allerdings meint dieses Machen nicht, etwas herzustellen. Vielmehr ist damit „Erleiden“ gemeint. Der Mensch ist in der Erfahrung dem ausgeliefert, was auf ihn zukommt. Also etwas sehr Passives, das Erleiden. Der Mensch ist in der Erfahrung reaktiv und erst in der Reaktion produktiv.
Vivienne Kaier: Das klingt sehr paradox. Julia, wenn ich dich richtig verstehe, dann sagst du gerade, der Mensch, also die Seglerin, soll ausgeliefert sein, nicht frei bestimmen können über ihr Tun? Bringst du die Erfahrung des Segelns auf eine Ebene mit dem Erleiden? Das klingt interessant!
Julia Schratz: Otto Friedrich Bollnow ist in diesem Zusammenhang recht deutlich: „Angenehme Erfahrungen gibt es nicht.“[5] Dann wäre es ein Erlebnis. Zwischen den beiden Begriffen gibt es in der Philosophie einen großen Unterschied. Was ist das Schmerzliche in der Erfahrung? Es sind die Erwartungen, die durchkreuzt werden. Erfahrung ist somit enttäuschte Erwartung. Und genau diese enttäuschten Erwartungen sind wiederum notwendig um im Nachhinein eine Lehre ziehen zu können. Indem der Mensch also antwortet, sich auseinandersetzt mit dem was passiert ist, stellt er einen neuen Sinn her.
Vivienne Kaier: Wer hätte vermutet, dass Erwartungen, welche nicht erfüllt werden, dennoch eine tolle Bereicherung darstellen? Ich nicht…
Natürlich, jede mehr oder wenige geübte Seglerin wird dir Recht geben: es ist manchmal auch eine Herausforderung, ein paar Tage oder Wochen auf einem Segelboot zu verbringen. Zum Beispiel, wenn das Wetter Überraschungen bereithält. Ich möchte nicht behaupten, dass der Teil des ERLEIDENS gering war, als beim letzten Törn das Wetter die Spielregeln vorgab. Als ich in Ölzeug dick eingewickelt, mit Leggins drunter und Stirnband und Mütze und noch eine Kapuze drüber an Deck gestanden bin. Es hat geschüttet, alles war nass, stürmisch, Regentropfen vor den Augen. Die warme Dusche nicht in Sicht und ein Klo, das mir in dem Moment eher wie ein Besenkammerl vorkam.
Aber am nächsten Morgen ging die Sonne auf und mir wurde klar: es gibt nichts Schöneres, als hier in dieser Bucht mein Frühstücksbrot zu essen, es ist ruhig und das Erleiden war es tausend Mal Wert.Es hat mich dieses „Erleiden“ also zu einer Erkenntnis gebracht: Es geht mir in meiner Entwicklung als Seglerin nicht darum, alle Wünsche erfüllt zu bekommen. Vielmehr ist es die Erfahrung, die mich stärkt und bereichert.
Viel zu wissen heißt nicht erfahren zu sein
Julia Schratz: Wann ist jemand demnach erfahren? Otto Friedrich Bollnow bezieht sich auf Arnold Gehlen[6], wenn er davon spricht, dass es keinen höheren Titel gibt, als den der erfahrenen Seefrau (Bollnow spricht zwar vom Seefahrer). Viel zu wissen macht noch keine Erfahrung. Erfahrung steht immer in praktischem Zusammenhang: erfahrene Ärztin, erfahrene Skiläuferin und eben erfahrene Seefahrerin; es sind die praktischen Fähigkeiten, die die Seefrau zur erfahrenen Seefrau machen. Reife ist also nur dann möglich, wenn auch schmerzliche Erfahrungen gemacht werden. Die Erfahrene ist diejenige, die aufgrund ihrer Erfahrung in kritischen Situationen für sich und andere die Verantwortung zu übernehmen bereit ist.
Vivienne Kaier: Dieses „Verantwortung übernehmen“ kommt uns beim Segeln sehr entgegen. Auf dem Segelboot gibt es ja nicht nur klassisch „die Seglerin“, sondern es gibt in einer Art Rollenverteilung: die Skipperin, die Smutje, die Steuerfrau, die Navigatorin, vielleicht eine Wachfrau, es gibt Trimmerinnen und die Rollen können auch mal getauscht oder mehrere Rollen zugleich besetzt werden. Doch was ich auf meinen Segeltörns gelernt habe, ist, dass niemand nichts macht. Es braucht das Team, es braucht den oder die, die Regeln vorgibt und ein Leben am Segelboot (und sei es auch nur für eine Woche) erfordert Organisation. Wenn die Skipperin gute, klare Vorgaben gibt, hat die „Frauschaft“ die Möglichkeit, Erfahrungen zu sammeln, zu lernen, ein Ziel zu erreichen. In unserem Fall zum Beispiel den Hafen oder die Bucht. Ich habe gelernt, dass ich nur dann auf einem Boot funktioniere, wenn ich mich manchmal zurückstelle, fürs Team agiere, Entscheidungen treffe und besonders Entscheidungen anderer folge. Und auch meine Crew funktioniert nur dann wenn jede dabei ist, jede lernt, jede Erfahrungen macht. Und wenn jede bereit ist, sich darauf einzulassen.
Julia Schratz: Dass eine Reise mit dem Segelboot Mut bedarf, ist jeder der bereits erfahrenen Seglerinnen sicherlich schon aufgefallen. Dass man Erfahrungen macht, erwartete sowie besonders auch unerwartete, das hätten wir uns vielleicht nicht gedacht.
Vivienne Kaier: Dass uns besonders die unerwarteten Erfahrungen jedoch umso mehr bereichern und dies den Segeltörn erst so richtig speziell macht, das ist das ganz Besondere.
Leicht veränderte Fassung des Vortrags „Reisen & Erfahrungen“ von Dr.in Julia Schratz und Mag.a Vivienne Kaier. Der Vortrag wurde im Rahmen der Veranstaltung „SeeFrauen erzählen“ am 10. Jänner 2018 in Innsbruck präsentiert. Vielen Dank.
[1] Kluge, F. (1989): Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Berlin: Walter de Gruyter.
[2] Waldenfels, B. (2002). Bruchlinien der Erfahrung. Phänomenologie. Psychoanalyse. Phänomenotechnik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. [insbesondere S. 59 bzw. 178]
[3] Meyer-Drawe, K. (2005). Anfänge des Lernens. Zeitschrift für Pädagogik, 49. Beiheft, S. 24-37. [insbesondere S. 31-33]
[4] Bollnow, O.F. (2013). Der Erfahrungsbegriff in der Pädagogik. In Bilstein, J. & Peskoller, H. (Hrsg.). Erfahrung – Erfahrungen, S. 17-50. Wiesbaden: Springer. [insbesondere S. 21-22]
[5] Bollnow, O. F. (1974). Was ist Erfahrung? In Vente, R. (Hrsg.): Erfahrung und Erfahrungswissenschaft. Stuttgart: Kohlhammer, S. 19–29. [insbesondere S. 20] sowie Bollnow, O.F. (2013). Der Erfahrungsbegriff in der Pädagogik. In Bilstein, J. & Peskoller, H. (Hrsg.). Erfahrung – Erfahrungen, S. 17-50. Wiesbaden: Springer. [insbesondere S. 22-25]
[6] ebd. bzw. Gehlen, A. (1961). Anthropologische Forschung. Zur Selbstbegegnung und Selbstentdeckung des Menschen. Reinbek: Rowohlt. [insbesondere S. 26]